"Sind Sie eigentlich fit genug?"

Das neue Buch von Margit Schreiner erscheint im August 2019

Wenn Margit Schreiner nicht an Romanen arbeitet, schreibt sie Artikel für Zeitungen und Zeitschriften, Statements zu aktuellen politischen Themen und vor allem Essayistisches: "Jede schriftliche Äußerung erfordert eine viel genauere Auseinandersetzung mit Themen als alles Mündliche. Die Ausdrucksweise in der öffentlichen Auseinandersetzung wird immer gröber und undifferenzierter, da muss man sich manchmal zu Wort melden."

Nach dem großartigen Essayband "Schreibt Thomas Bernhard Frauenliteratur?", in dem Schreiner zu der Schlussfolgerung kommt: "Thomas Bernhard IST eine Frau", folgt nun ein Band mit neuen Essays und betrachtender Prosa.

Unter dem Oberbegriff "Literarisches" denkt sie über Sprachformen wie "Rührei oder Eierspeis" nach, bei "Biographisches" geht es unter anderem um den "Roten Faden". "Weibliches" inspiriert sie zu dem hinreißenden Essay über "Muttertag, der Tag des Wellensittichs", "Redliches" zum "Seepferdchen im Kopf". Sie schreibt über Margaret Atwood und Jane Bowles und fragt schließlich unter dem Stichwort "Politisches":"Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?" Und immer zeigt Margit Schreiner ihren unverwechselbaren Bliuck auf unsere Welt.

 

Sind Sie eigentlich fit genug?

Bipolares

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Fit-Sein alles gilt. Fit-Sein heißt: gesund, trainiert, angepasst, arbeitsfähig. Drum joggen ja die Leute so viel oder rasen in der Mittagshitze mit dem Mountainbike auf Berge. Auf der anderen Seite gibt es (deshalb?) so viele Menschen wie noch nie mit Burn-out, Depressionen, Panikattacken. Zwischen dem topfitten Manager und dem auf Sozialhilfe angewiesenen Kranken gibt es, so scheint es, nicht viel. Ich glaube, da ist gewaltig etwas schief gelaufen.

Wir alle kennen nämlich Angst, Panik, Trauer, Leid. Wenn wir diese Gefühle aber nicht mehr zugeben dürfen, um wettbewerbsfähig zu sein und auch zu bleiben, werden wir irgendwann empathielos oder krank. Dass der Mensch depressiv, manisch und schizophren sein kann, hängt mit seinem Menschsein zusammen, schreibt der Psychiater Leo Navratil, dessen Buch „Schizophrene Dichter“ aus dem Jahr 1986 Gott sei Dank 1994 neu aufgelegt wurde und deshalb als eines der wenigen Bücher Navratils noch erhältlich ist. Manie oder Schizophrenie sind nur extreme Ausprägungen allgemein menschlicher Erfahrungen. Wer wüsste das besser, als der Schriftsteller, der sich ständig am Abgrund des so genannten Normalen befindet. Denn die genaue Beobachtung unserer Welt (und was anderes wäre Literatur) erfordert eine erhöhte Wahrnehmungsbereitschaft, erhöhte Gefühlintensität, erhöhtes Einfühlungsvermögen in jeden menschlichen Zustand.

Seit ich schreibe, und das sind nun schon mehr als fünfunddreißig Jahre, weiß ich, dass Schreiben ein bipolarer Zustand ist. Also aus zwei einander entgegengesetzten Polen besteht. Der eine Pol ist: Ganz innen in einer Geschichte, einem Text, einem Gefühl zu sein. Der andere: Die Geschichte, den Text, das Gefühl ganz von außen zu betrachten, also zu überprüfen, ob die Geschichte, der Text, das Gefühl auch anderen Menschen vermittelbar ist. Diese beiden Pole werden nie ganz zusammengehen, was so viel heißt, dass der Schriftsteller immer auch gewissermaßen unter einer bipolaren Störung leidet. Wir wissen aus der Geschichte der Literatur, wie viele Schriftsteller an verschiedensten psychischen Erkrankungen litten und wie viele sich letztendlich umgebracht haben.

Nun hat aber die Fitnesswelle auch die Schriftsteller erreicht. Auch sie müssen sich auf einen wild gewordenen Büchermarkt mit immer stärkerem Leistungsdruck einstellen. Ich fürchte, dabei wird Einiges auf der Strecke bleiben. Auch wenn es nicht modern ist, ich glaube trotzdem, seelische Störungen, Behinderungen und Leiden sind immer (auch) Reaktionen auf äußere Ereignisse. Auch körperliche Behinderungen sind Reaktionen auf äußere Ereignisse. Auf Viren, Gene, Krankheiten, Unfälle, Alter. Ich bin 63 Jahre alt. Natürlich bin ich auf dem Weg, behindert zu werden. Der körperliche Stützapparat lässt nach, das Immunsystem wird schwächer, hören tu ich sowieso schon schlecht, sehen auch. Mein Vater hatte Alzheimer, meine Chancen stehen 50:50, es auch zu bekommen. Meine Mutter war am Ende ihres Lebens dement. Wie alt sind Sie eigentlich? Es ist erstaunlich, wie Verdrängung funktioniert. Oder dauert es drei Generationen, bevor das Bild des „Idioten“, des „Erbkranken“ aus unseren Köpfen verschwindet?

Ich heiße Idiot

Und auch da spielt Sprache eine Rolle. Ich bin kein Freund politisch korrekter Ausdrucksweise, weil oft genug hinter korrekten Worten ein Missstand verheimlicht wird oder zumindest verharmlost. Die vielen AutorInnen, ArbeiterInnen, ManagerInnen, die überall begrüßt werden, lassen leicht den Eindruck entstehen, es gebe bereits Gleichberechtigung, obwohl es sie nicht gibt; Frauen verdienen immer noch weniger als Männer. Andererseits wirken ja Worte auch wieder zurück auf die Bezeichneten. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Geschichte eines Kindes in Amerika, die im September 2016 durch die Presse ging. Als die Polizei in Hot Springs im Bundesstaat Arkansas ein misshandeltes Mädchen in Sicherheit brachte, antwortete die Vierjährige auf die Frage, wie sie heiße: Idiot. Der Lebenspartner der Mutter, der in der Familie wohnte und das Mädchen auch körperlich stark misshandelt hatte, räumte laut „Washington Post“ bei einer Vernehmung ein, das Kind oft „Idiot“ genannt zu haben. Er rechtfertigte sich, das sei als Spaß gemeint gewesen.

Die so genannten „Idiotenanstalten“ des ausgehenden 19. Und beginnenden 20. Jahrhunderts brauchten sich zu ihrer Zeit nicht einmal zu rechtfertigen. Es war gängiger Sprachgebrauch. So widmete Fürst Camillo Starhemberg 1898 aus Anlass des 50jährigen Regierungsjubiläums Seiner kaiserlich-königlichen Apostolischen Majestät Kaiser Franz Josef I. Hartheim als „Asyl den armen, Schwach-und Blödsinnigen, Idioten und Cretinösen“. So steht es auf der Widmungstafel von 1898. Das Denken, menschliche Wesen so zu bezeichnen, führte dann ja auch zur Propaganda der Zwischenkriegszeit und anschließend des Nationalsozialismus, die nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, dass der „tüchtige“ – wir würden heute sagen der fitte – Bürger die finanzielle Last der gänzlich unfitten „Erbkranken“ zu tragen habe, was wiederum dazu führte, dem Volk diese Ausgaben zu ersparen. Wie wir wissen, war Hartheim im Nationalsozialismus eine Tötungsanstalt. Nach Ende des 2. Weltkrieges und der Barbarei wurde ein Neuanfang gemacht. Das dauerte. 1965 wurde das Hartheim-Institut gegründet, 1969 wurde dann „Das Pflegeheim zur Betreuung und heilpädagogischen Förderung von schwerstbehinderten Kindern“ eröffnet. Da war es immer noch ein langer Weg von Krankenhausatmosphäre zu Kleingruppen, von rein medizinischer Betreuung zur Erziehung, von der Anpassung zur Gleichberechtigung. Das Wording änderte sich in den folgenden Jahren von „mental gestört“ zu „schwerstbehindert“, von „handicaped“ zu „besondere Menschen“, „Menschen mit besonderen Fähigkeiten“, von „Patient“ zu „Klient“. Der Weg führte von Exklusion und Separation zu Integration und Inklusion. Wer sich nicht mit humanitären Fragen beschäftigt, wird oftmals zu Spott neigen. „Besondere Menschen“, „besondere Fähigkeiten“, sind das nicht Euphemismen? Nein, sind sie nicht. Jeder, der einmal in einem Dunkelrestaurant war, wird sich der eigenen Orientierungslosigkeit in Dunkelheit bewusst werden. Er oder sie wird feststellen, dass wir bei weitem hinter unseren potentiellen Wahrnehmungsfähigkeiten zurückbleiben. Fast alles Neue, Produktive, Kreative entsteht zunächst aus einem Defizit. Aus einem Defizit an Wissen, Zufriedenheit, Verwirklichungsmöglichkeiten, Ruhe, Zeit etc. Wer würde sich die Mühe einer zähen wissenschaftlichen Forschung oder des mühevollen Schreiben eines Romans machen, wenn er nicht ein Defizit verspüren würde, ein Ungenügen an dem, was oder wie etwas ist, was oder wie er oder sie weiß, fühlt, sieht schmeckt usw. Es ist das Defizit an Wissen, das den Wissenschaftler dazu treibt, mehr Wissen zu gewinnen, das Defizit an Differenzierung, das den Schriftsteller dazu treibt, zu differenzieren.

Integration

Unsere Gesellschaft, der Fit-Sein alles gilt, will auch Gewinn aus allem. Wenn ein Schüler das Lernziel nicht erreicht, war die Schulbildung umsonst. Ist sie aber nicht. Auch und oft gerade sind es diejenigen, die in den Schulleistungen durchschnittlich oder mangelhaft waren oder gar durchfielen, die später mehr von dieser Schulbildung haben als die Klassenbesten. Es ist ganz egal, was ein mehrfach behindertes Kind an Wissen in unserem normativen Sinn erlernt, es wird anderes erlernen, das vielleicht nicht umsetzbar ist in Gewinn. Die Schüler, die mit einem mehrfach behinderten Kind in eine Klasse gehen, werden die Chance haben, von diesem Kind anderes zu lernen als Lehrstoff ist. Sie werden die Chance haben, zu lernen, menschlich zu sein! Oder besser gesagt: menschlich zu bleiben. Denn auch das Unmenschliche ist meist nur Ergebnis von Unkenntnis. Neulich habe ich im Supermarkt gesehen, wie eine –übrigens ausländische – Familie mit ihren beiden Kinder einkaufte. Der Bub saß in einem Rollstuhl. Seine Schwester hatte sich auf seinen Schoß gesetzt und wollte da nicht mehr runter. Die beiden haben gelacht und ein bisschen gerauft. Ich bin überzeugt, dass die Neigung, behinderte Kinder zu mobben, aus Unkenntnis geschieht. Wer sich selbst ständig in einem Wettbewerbssystem beweisen muss, nutzt jede Gelegenheit, besser zu sein als andere. Fitter.

Inklusion

„Die Forderung nach sozialer Inklusion ist verwirklicht, wenn jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben oder teilzunehmen. Unterschiede und Abweichungen werden im Rahmen der sozialen Inklusion bewusst wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung eingeschränkt oder gar aufgehoben. Ihr Vorhandensein wird von der Gesellschaft weder in Frage gestellt noch als Besonderheit gesehen. Das Recht zur Teilhabe wird sozialethisch begründet und bezieht sich auf sämtliche Lebensbereiche, in denen sich alle barrierefrei bewegen können sollen.“, sagt Wikipedia.

Eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Ist es aber nicht. Das Andere, das Fremde wird schnell abgelehnt. Woran das liegt? Ich glaube, es liegt an der Angst, die viele Menschen verdrängen zu müssen glauben, um „fit“ zu bleiben. Und es liegt an der Trägheit, etwas zu tun, und sei es nur, etwas zu hinterfragen, das zu hinterfragen nicht bezahlt wird. Wollen wir so leben?

Die Hirnforschung hat nachgewiesen, dass der Mensch durch Differenzen lernt, nicht durch Gleiches. Gäbe es den Widerspruch nicht, das ganz Andere, das für uns Schwierige, so würden wir uns auf lange Zeit gesehen zurückentwickeln zum Affen.

Und Affen sind, wie wir wissen, außerordentlich fit!

 

Gedruckt in: Der Wert der Lebensvielfalt. Hrsg. Wolfgang Schwaiger, Wagner Verlag 2016

Anton-Wildgans-Preis Dankesrede

Ich bin bestimmt nicht die erste Autorin, die in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Anton-Wildgans-Preises auf seine berühmte „Rede über Österreich“ von 1929, anlässlich des Geburtstages der österreichischen Republik, zu sprechen kommt. Mehr denn je erfordert es die Zeitumstände.

Anton Wildgans hat in dieser Rede das Erbe Österreichs aus dem Vielvölkerstaat der österreichisch-ungarischen Monarchie angesprochen, die daraus resultierende Sensibilität anderen Völkern und Sprachen gegenüber, die, ebenfalls aus den verschiedenen kulturellen Einflüssen resultierenden Leistungen Österreichs in den Künsten und Wissenschaften. Er bescheinigt Österreich, aus seinen geschichtlichen Erfahrungen heraus konzilianter, weltmännischer und europäischer zu sein als andere Staaten.

Der zu Unrecht, wie übrigens auch Anton Wildgans, ein wenig in Vergessenheit geratene Psychiater Erwin Ringel ist in seinem ebenfalls berühmten Buch „Die österreichische Seele“ von 1983 zu einem gegenteiligen Schluss gekommen. In dem Essay mit dem Titel „Eine neue Rede über Österreich“ nimmt er Bezug auf Anton Wildgans. So sehr er ihm auch seinen Willen und Mut um Dialog und Verständigung zu Gute hält, bezeichnet er in scharfem Gegensatz dazu Österreich als eine Brutstätte der Neurosen und den Österreicher als neidisch, hinterhältig und rachsüchtig.

Wer von beiden hat nun Recht? Ich glaube, beide und keiner. Es gibt keine österreichische Seele, es gibt keinen Österreicher an sich. So wie es auch keine einfache Trennung von gut auf der einen Seite und böse auf der anderen gibt. „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ sagt Faust nach dem Osterspaziergang zu seinem „Schüler“ Wagner. Wahrscheinlich sind es noch mehrere Seelen. Das sollte uns nicht daran hindern, zu entscheiden, welchen Teilen unserer Seelen wir folgen möchten, welche wir bekämpfen sollten. In diesem Sinne verstehe ich Anton Wildgans‘ „Rede über Österreich“ und nicht als Analyse psychologischer, historischer oder gar politischer Art.

„Jetzt aber, da wir, wieder einmal von vorne beginnend, eine Erbschaft an Kultur übernommen haben, wie sie bedeutsamer nicht sein kann, jetzt aber, da wir im Begriffe sind, dieses kostbare Inventar in unser neues, wenn auch kleineres Haus einzubauen und es zu verwalten, nicht als engherzige Eigentümer, sondern gleichsam als Treuhänder der gesamten kultivierten Menschheit, in diesem wichtigen und hoffnungsvollen Augenblick ist es an der Zeit, der Unart falscher Bescheidenheit und allzu unbedenklicher Selbstpreisgabe zu entsagen und in uns allmählich ein anderes heranzubilden, nämlich das historische Bewußtsein und den Stolz des Österreichers!“

Im Moment schaut es nicht so aus, als würden diese Worte verstanden. Stolz schon, nationales Bewusstsein, das ja in ganz Europa im Kommen ist, schon, Unart falscher Bescheidenheit gar nicht, aber dafür besonders enges, provinzielles, ganz und gar nicht konziliantes Denken.

„Österreich hat ein Gammelfleischproblem“, heißt es 2015 in einem Hassposting im Internet, „auf der Autobahn wurde ein LKW sichergestellt mit mindestens 50 Klumpen syrischen Gammelfleisch.“ Gott sei Dank können seit 1.1.2016 mit einer Novelle des Verhetzungsparagrafen 283 StGB solche Hasspostings auch auf kleinen Foren, ebenso wie das „Reposting“ von hetzerischem Material gerichtlich verfolgt werden, wenn das auch in vielen Fällen schwierig ist, da die meisten Verfasser anonym bleiben und Facebook sich auch in dieser Hinsicht nicht sehr kooperationsbereit zeigt. Ein Kommentar zum Suizidversuch eines syrischen Flüchtling in Wien, der sich vor eine Straßenbahn warf: „Ich hoffe, die Straßenbahn hat gewonnen und nehme den Tramfahrer virtuell in die Arme. Wer will schon Scheiße auf der Windschutzseite?“

Angesichts solcher Meinungsäußerungen neigt man dazu, Erwin Ringel, dem Suizidforscher, der im Übrigen bereits 1948 das weltweit erste Suizidpräventionszentrum in Wien aufgebaut hat, Recht zu geben: Ja, der Österreicher ist neurotisch, hinterhältig, neidisch, gemein. Und dazu, was ihn selbst betrifft, noch wehleidig.

Ich glaube trotzdem nicht, dass die Gefahr von Psychopathen ausgeht oder an einer speziell österreichischen Neurose liegt. Die Gefahr liegt nicht in der österreichischen Seele, nicht im einzelnen Poster, - wir wissen ja nicht einmal wie viele Menschen überhaupt solche Hasspostings verbreiten, ich nehme einmal an, es sind wenige, dafür aber umso eifrigere, sondern die Gefahr liegt in der Funktionalisierung solcher Undifferenziertheiten und Grobheiten, in der Verachtung von Menschenwürde und Demokratie. Die Gefahr liegt darin, dass Menschenverachtung toleriert wird, ja, dass ihr ein Boden bereitet wird, auf dem sie gedeihen kann und dass sie obendrein als mutige Äußerung einer vermeintlich gemeinhin unterdrückten Volksmeinung bezeichnet wird. So etwas nutzt und wird benutzt von Kräften in der Gesellschaft, die an einer Polarisierung interessiert sind.

„Einen Populisten erkennen Sie daran“, sagt der deutsche Politologe Jan-Werner Müller in einem Interview des Standards am 20.10 2016, „dass er oder sie immer einen moralischen Alleinvertretungsanspruch stellt und sagt: Ich und nur ich repräsentiere, was das wahre Volk will. Das hat zwei Folgen: Erstens sind damit die anderen Akteure alle illegitim. So wird auf der Ebene der Eliten ausgeschlossen. Zweitens wird gesagt, dass nur jene zum Volk gehören, die einen unterstützen. Hier wird auf der Ebene der Bürger ausgeschlossen. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, was ja in einer Demokratie noch legitim wäre. Nein, sein politischer und moralischer Satus wird infrage gestellt. Es gibt also einen antipluralistischen Effekt sowohl auf der Elite- als auch auf der Bürgerebene. Das ist das Besondere und macht Populisten gefährlich.“

 

Wir haben in Österreich eine in den letzten Jahren wieder erstarkte Partei, deren Slogans des Parteivorsitzenden lauten:

Der Einzige, der UNSERE Sprache spricht

Der Einzige für UNSERE Werte und Kultur

Der Einzige mit Herz für UNS Wiener

Welche Sprache meint er, die der Hassposter oder die des Humanismus, welche Werte, welcher Kultur meint er und wer sind eigentlich seine Wiener?

Das heißt, ich -wir- vertreten die wahre Mehrheit, sind aber gleichzeitig Opfer der Eliten. Wenn das wahre Volk bei einer Wahl verliert, dann kann etwas nicht stimmen, weil die Eliten sind ja nur ganz wenige, also muss etwas im System nicht stimmen. Das wahre Volk, man bezieht sich oft auch auf die „schweigende Mehrheit“, muss Opfer der Eliten sein.

Ringel oder Wildgans?

Ich will die beiden Positionen nicht gegeneinander ausspielen. Das tut im Übrigen auch Erwin Ringel selbst nicht, der „Eine neue Rede über Österreich“ nicht als Gegenrede zu Wildgans sondern als Ergänzung verstanden wissen wollte. Ringel schätzte den Dichter Anton Wildgans sehr und schreibt, dessen Rede sei „das schönste, was bisher über Österreich gesagt wurde“. Aber der Inhalt sei nicht wahr. Da hat er Recht. Anton Wildgans‘ Befund der österreichischen Seele ist keine politische Analyse, so wie übrigens auch Ringels Befund keine ist - es gibt wie gesagt überhaupt keine österreichische Seele – sondern ich will sie als APELL auffassen und ich glaube, als solcher war sie 1929 auch gemeint, in einer Zeit der Gründung der Heimwehr, zwei Jahre nach dem Brand des Justizpalastes, der beginnenden Weltwirtschaftskrise, ….Und genau da möchte ich anknüpfen in unserer Zeit der Wirtschaftskrise, der hohen Arbeitslosigkeitsrate, des Erstarrens der Großparteien, der Flüchtlingsbewegungen und des damit verbundenen Aufkommens von rechten Strömungen, die Ausländerhass, Intellektuellenfeindlichkeit etc. schüren. Besinnen wir uns auf das weltmännische, konziliante, humanitäre!

Die Industriellenvereinigung hat das getan. Ich will den Anton-Wildgans preis nicht mit dem Nobelpreis vergleichen, Tatsache aber ist, dass Preise immer auch politische Entscheidungen sind. Die Preisträger seit 2005 waren: Barbara Neuwirth, Wolfgang Hermann, Sabine Gruber, Kathrin Röggla, Alois Hotschnig, Doron Rabinovici, Arno Geiger, Olga Flor, Norbert Gstrein, Barbara Hundegger und im Vorjahr Erich Hackl, allesamt Schriftsteller, die in Literatur und Wort für ein aufgeklärtes, menschenwürdiges Dasein eintreten, das Gegenteil von Populisten oder Anbiederern an den gängigen Buchmarkt. Ich fühle mich geehrt, in dieser Reihe zu stehen und danke Ihnen für die Überreichung des Anton Wildgans Preises.

 

Dankesrede anläßlich Verleihung des Anton-Wildgans-Preises am 28.11.2016

Aspekte zeitgenössischer Literatur und ihre gesellschaftlichen Bedingungen

Heute - Früher

Ursula März zitiert 2011 in ZEIT ONLINE anlässlich des Erscheinens von Charlotte Roches „Schoßgebete“ den Verlagsleiter von Kiepenheuer&Witsch, Helge Malchow: Auf dem deutschen Literatur-Buchmarkt hätte sich eine „neue Kategorie der Ultrabestseller“ gebildet. Bisher sei man von drei Kategorien von Büchern ausgegangen: Bücher, deren Auflage unter 5000 Stück liegen, die ökonomisch dem Verlag nichts brächten, aber gemacht werden müssten, Bücher mit einer Auflage von 6000 bis 15.000 Stück, die sich selbst trügen und Bestseller von 500.000 bis 1 Million Stück. Die vierte, neue Kategorie seien so genannte „Raketen“, die die Millionengrenze durchschlügen. Ihr Markterfolg verdanke sich der „kulturell fakultativen Teilhabe“ eines weitgehend unliterarischen Publikums an einem populären Faszinationsobjekt.

Ein Gegenbeispiel: Den Druck des ersten von vier Bänden seiner Autobiographie, der die Lebensjahre von 1813 bis 1842 umfasst, ließ Richard Wagner, der sich damals in der Schweiz aufhielt, von dem Baseler Drucker G. A. Bonfantini im Laufe des Jahres 1870 herstellen und von Friedrich Nietzsche überwachen. Als Vorlage diente die von Wagner korrigierte Diktatniederschrift seiner Gattin Cosima. Der Band sollte in einer Auflage von 15 Exemplaren in die Hände des Gönners König Ludwig II. und treuer Freunde gelangen. Das nur zur Erinnerung.

Neue Marktbedingungen

Seit Anfang/Mitte der 1990-er Jahre hat sich Grundlegendes verändert. Nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Literatur. Dass alles zusammenhängt ist eine Binsenweisheit, die trotzdem erläutert werden muss. Die Politik hat kaum mehr regulativen Einfluss auf den globalen Markt. Wir leben in Zeiten nach dem Ende der Politik. Der Literaturmarkt hat sich, so wie die Märkte allgemein, verselbstständigt. Er wird ziellos überschwemmt mit Literatur jeglicher Couleur während sein Regulator, die Literaturkritik, ihre Funktion verloren hat. Man kann nicht einmal von bösem Willen sprechen. Die Medien, in denen die Literaturkritik agiert (also vor allem anspruchsvollere Printmedien, Radio und Fernsehen) haben Informationspflicht. Die führenden Verlage bestimmen im Vorhinein (allein indem sie Geld in Autor und Auflage investiert haben), was die kommenden Bestseller sind, und die Medien folgen der Informationspflicht.

Das ständige Ranking von Literaturtiteln, das den Verlagen und den Autoren, die im Ranking sind, gelegen kommt, verstärkt die Situation. Denn natürlich müssen auch die Besten der literarischen Wettbewerbe (Bachmann-Wettlesen, Bremer Literaturpreis, Deutscher Buchpreis und Preis der Leipziger Buchmesse, einschließlich Long- und Shortlists) usw. besprochen werden. Bis alle in diesem Sinne wichtigen Bücher abgearbeitet sind, können schon ein paar Monate vergehen, und dann ist bereits die neue Produktion an der Reihe. Die Halbwertszeit von Buchneuerscheinungen wird aber immer kürzer. Da bleibt nicht viel fürs Mittelfeld. Ob es die Literaturkritik selbst so sieht und, wenn ja, ob es ihr nun gefällt oder nicht, sie wird durch das Nachhecheln von bereits festgelegten „Sensationen“ fast zwangsläufig zur kostenlosen Werbetrommel der Verlage. Das schadet(e) auf Dauer Inhalt und Stil der Rezensionen. Hans Magnus Enzensberger meint in „Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen“, erschienen bereits 1988 im Suhrkamp Verlag, dazu: „Nicht daß es unter den Rezensenten Trottel und Schwätzer gibt, ist der springende Punkt, sondern daß die Form der Rezension als solche offenbar nicht mehr zu retten ist. Der literarische Journalist lebt von der Substanz, die der Kritiker ihm hinterlassen hat; wenn sie aufgezehrt ist, bleibt nur Gequassel übrig. Schon wirken die literarischen Sonntagsbeilagen obsolet. In den Illustrierten-Redaktionen ist die Kultur längst zum Anhängsel des Unterhaltungsressorts geworden; im Spiegel kommen Buchbesprechungen nur noch ausnahmsweise vor; der Kulturteil des Magazins hat alle Hände voll zu tun, um uns über die neuesten Trends im Autodesign, im Getränkekonsum, in der Gynäkologie und der Trachtenmode zu unterrichten. Lapidare Textsorten ersetzen die Rezension: der Klappentext, der Buch-Tip, die Bestseller-Liste, der Werbespot. An die Stelle des Rezensenten, der immer noch liest und schreibt, obwohl ihm weder das eine noch das andere gelingen will, treten andere Zirkulationsagenten, denen diese Qual erspart bleibt, als da sind: Medienkontakter, Showmaster, Videodesigner – Leute, die instinktiv erkannt haben, was das Störende, das eigentlich Lästige am Literaturgeschäft ist, nämlich der Text, das Buch, die Literatur.“

Das spiegelt sich auch in den großen Buchhandlungsketten wider. Da gibt es (bezahlte) Bestsellertische wie Altäre mit Türmen eines einzigen bestimmten Romans, für den durchschnittlichen Leser wie im Supermarkt aufbereitet. Und sozusagen unauffällig eingebettet in alle möglichen Arten von Nippes, Tand und Unterhaltung. Die Beratung im gut sortierten Einzelhandel setzt voraus, dass der Buchhändler den Geschmack jedes Einzelnen seiner Kunden kennt. (Meiner wurde jedenfalls meist nicht erkannt.)

Die Vermittlerbranche

Gleichzeitig gewinnen, teilweise aus literaturfernen Branchen kommende Juroren, Moderatoren, Event-Manager etc.an Einfluss. Auch sie richten sich naturgemäß nach Verkaufszahlen beziehungsweise Quoten. Die Tendenz geht schon lange zum schreibenden Promi statt zum Autor, Festival statt Einzellesungen, zu themengebundenen Besprechungen (Stichwort: „Ferienlektüre“, “Krimi“, usw.) statt Besprechung von einzelnen Werken, einschließlich der „Bespaßung“ von Literatur wie wir das von Ausstellungen und Museumsdarbietungen kennen, die ja auch mehr und mehr themenbezogen sind („Nackte Männer“, „Rabenmütter“, usw.). Klar, dass auf diese Weise der Moderator, Organisator, Event-Manager wichtiger als der einzelne Schriftsteller wird. Deshalb verdient er ja auch ein Vielfaches. Lesungshonorare für den Nicht-Bestseller-Autor, der nicht auf Festivals oder in Bankinstituten, sondern in Buchhandlungen oder Kulturhäusern liest hingegen sind seit sechzehn Jahren gleich geblieben oder sogar weniger geworden. Oftmals wird auch die Anfahrt zu einer Lesung, die Verpflegung und Unterbring oder/und die Umsatzsteuer nicht mehr vom Veranstalter gezahlt, oder kann vom einzelnen Veranstalter, der nämlich nicht mehr Förderungen erhält, da ja das meiste Geld in die „Großveranstaltungen“ geht, bezahlt werden. So wie in der Gesellschaft allgemein, hat sich auch in der Literatur eine Schere aufgetan, die zwischen arm (kaum verkaufte Bücher) und reich (Bestseller) keinen Platz mehr für die Mittelschicht (Bücher, von denen zwischen 2000 und 5000 Exemplare verkauft werden) lässt. Die Mittelschicht verarmt somit.

Wenn man den Autor, der lesen wird, schon aus dem „Tatort“ oder von der „Tagesschau“ her kennt, ist der Spaß natürlich noch größer, selbst wenn es die dargebotene Literatur nicht ist. Man sieht dann einen Menschen, der es in einer anderen Branche bereits zu etwas gebracht hat, noch einmal anders. Persönlicher! Privater! Der Verlag spart sich Werbung, der Literaturkritiker wird darauf eingehen, weil es „ von allgemeinem Interesse“ ist, was der Tatortkommissar schreibt und sagt und wie er schreibt und wie er es sagt. Ebenso der Comedian bzw. Kabarettist, der heute auch gerne schreibt.

Noch eine Vermittlerbranche

Neben der Organisation von Festivals und anderen Großveranstaltungen werden jedoch auch für den laufenden Literaturbetrieb selbst immer mehr Agenten, Betreuer, Lesungsorganisatoren, Webseiten- oder Homepagebetreuer gebraucht. Die kann sich natürlich nur leisten, wer ohnehin gut im Geschäft ist. Es scheint so, als ob heute der Autor der Mittelschicht mehr und mehr selbst für seine Werbung verantwortlich ist. Einige großen Verlage scheinen die Organisation von Lesungen längst ausgelagert zu haben, oder die Autoren suchen von sich aus Agenten, die möglichst gute Verdienstmöglichkeiten versprechen. Dafür nehmen sie auch bis zu 20 % der Einnahmen der Autoren.

Homepage und Facebook gehören bereits zum Muss für den Autor, der sich nicht als graue Maus den neuen Medien verschließen will. Die neuen Medien zu bedienen kostet Zeit oder Geld oder beides. Es soll bereits Autoren geben, die ihre Facebookgemeinde über den bestmöglichen Titel für ihr neues Werk oder gar über die „Auflösung“ desselben befragen. Juli Zeh bietet auf ihrer Homepage einen Rundgang durch „Unterleuten“ an, ein fiktives Dorf im Brandenburgischen, Mittelpunkt ihres neuen Romans mit dem gleichnamigen Titel. Im Netz gibt es fiktive Homepages von einem „Vogelschutzbund Unterleuten“, dessen 1. Vorsitzender die Romanfigur Gerhard Fließ ist. Dort werden sogar (reale) Führungen durch das (fiktive) Vogelschutzgebiet Unterleuten angeboten. Mit einer anderen Romanfigur , mit Kathrin Kron-Hübschke, kann man Freundschaft (auf Facebook) schließen. Das Erfolgssachbuch „Dein Erfolg“ von dem fiktiven Autor Manfred Gortz, aus dem im Roman zitiert wird, hat Juli Zeh selbst geschrieben. Es gibt das Sachbuch bei Goldmann und es hat bereits Bestseller-Rang 29.000 bei amazon.de., einen Verkaufsrang, den sich die meisten literarischen Autoren nicht einmal zu erträumen wagen. Der fiktive Autor des Bestsellers tritt in einem Videoclip selbst auf und beklagt, dass das Gerücht umgehe, es gäbe ihn gar nicht. (Übrigens sehr lustig!) Virtuelle und reale Welt vermischen sich. Das ist letztlich nichts als ein groß angelegter PR-Gag. Den irgendjemand natürlich gestalten und bezahlen muss.

Das Anpassen des öffentlich-rechtlichen Radios an den Markt

Da wagt man ja kaum über ein so antiquiertes Kommunikationsmittel wie das Radio zu sprechen. Das, insofern ganz im Trend liegend, Primärliteratur zu Gunsten moderierter Sendungen über Literatur und Autoren Schritt um Schritt abbaut. In den achtziger Jahren gab es noch Ressorts für Literatur, Intendanten, die aus der Literatur kamen (Rudolf Bayr, Hannes Leopoldseder, Fritz Habeck, Ernst Schönwiese...). Heute sind es Journalisten der Innenpolitik, bezeichnenderweise oft Finanzexperten oder kaufmännische Kräfte, die nicht mehr Intendanten sondern Direktoren sind. In den ORF-Regionalradios gibt es so gut wie keine Literaturabteilungen mehr. Wenn es aber keine geschlossenen Literaturabteilungen mehr gibt dann gibt es auch niemanden mehr, der die Literatur vertritt. So gibt es heute kaum noch Primärliteratursendungen und wenn ja, wurden diese wie „Radiogeschichten“ und „Beispiele“ unauffällig und ohne Hinweis von zwanzig auf siebzehn Minuten reduziert. Es waren die Querverweise in der Programmankündigung, denen die Literatur Platz machen musste. Musik zwischen den Texten minderte im Sinne der Sparmaßnahmen die Kosten für Rechtezahlungen an die Verlage und Autoren. Ich möchte einmal behaupten, dass diese Tendenz vor allem dem Roman, der besonders schwer in kleine und kleinste Häppchen zu teilen ist, schadet. Wo es wenige Sendeplätze gibt, gibt es auch wenig Literatur, die gesendet werden kann. Und geredet wird ja (siehe Informationspflicht) vor allem über die sowieso bereits bekannten Romane und Autoren.

Funkerzählungen und Hörspiele werden nicht mehr regional produziert, was gerade für den literarischen Mittelstand, der Romane schrieb, aber von Funkerzählung und Hörspiel lebte, finanzielle Einbußen brachte. Autoren schaffen neue Überlebensstrategien. Sie bieten an eigenen Rechnern fertig produzierte Hörspiele, Hörbilder, Essays oder gar Romane gleich als Datenträger oder CD oder MP3 an, weichen in die sozialen Netzwerke aus (Facebookgemeinden, Internetromane, Book on demand), versuchen sich als Drehbuchautoren bei Fernsehserien oder bauen sich ihr Theater gleich selbst wie der heute 80jährige Friedrich Ch. Zauner, einst ein begehrter Roman- Hörspiel- und Funkerzählungsautor. Das reicht manchmal, aber nicht immer zum Überleben, es reicht meistens nicht zum (Weiter-) Schreiben zeitlich aufwendiger literarischer Romane.

Die Krise des Romans

Kurz: Der zeitgenössische Roman befindet sich in einer Krise. Übrigens seit nunmehr fast 100 Jahren, seit Otto Flakes 1922 die Krise des modernen Romans ausgerufen hat. Umso erstaunlicher, dass gerade heute wieder besonders dicke, möglichst klassisch erzählte Romane gefragt sind. Mindestens 500, gerne 1000 Seiten. Und zwar nicht nur U/U Literatur, die immer schon umfangreich war (Stichwort „Vom Winde verweht“), sondern auch U/E Literatur. Das war in den letzten zwanzig, dreißig Jahren nicht immer so.

Der Umschwung am Literaturmarkt in den 1990er Jahren brachte zunächst zum Beispiel mit dem(n) „Fräuleinwunder(n)“ im deutschsprachigen Bereich: knappe Romane und Erzählungen mit einem Umfang von etwa 100 bis 200 Seiten. Die Interpretation dieses Faktums lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass der moderne Mensch im Umbruch keine Zeit mehr habe, 500 oder gar 1000 Seiten dicke Bücher zu lesen. Zu schreiben auch nicht, weil der einzelne Schriftsteller ja genug mit der Selbstverwertung zu tun hat.

Der möglichst umfangreiche Roman galt allerdings schon immer als opus magnum des reifen, also bereits in die Jahre gekommenen Autors. (Sozusagen das großformatige Ölbild im Vergleich zur Grafik.) So hat auch der reife Peter Handke mit „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ 1994 mit 1066 Seiten die Kraft zur Länge bewiesen. Weniger populäre Autoren dicker Romane nach Thomas Mann, Joyce und Musil waren meist Außenseiter, die unter Umständen sogar jahrzehntelang, ohne damit Geld zu verdienen, an ihren Werken gearbeitet hatten. Zum Beispiel Arno Schmidt, Marianne Fritz, Guntram Vesper, den ich noch zu den „Alten“ zähle, auch wenn „Frohburg“ erst jetzt nach lebenslanger Materialsammlung und achtjähriger konsequenter Schreibarbeit erschienen ist. Und das mit großen Erfolg. Angesichts dieser Tatsachen müsste es eigentlich verwundern, dass „dicke“ Romane heute so gefragt sind. Oder auch nicht. Gehen wir vom Bestseller-Autor aus, der von Verlag, Managern, Betreuern usw. umgeben ist und genug Geld verdient, so kann er es sich leisten, zwei, drei Jahre lang an einem dicken Roman zu schreiben. (Ich bezweifle, dass dazu jemand heute mehr als höchstens ein paar Jahre braucht.) Der Verlag wird sich freuen, da es offenbar so etwas wie interne Preisrichtlinien für bestimmten Seitenzahlen gibt. Schmale Romane von ca. 160- 240 Seiten kosten um die 19,90 Euro, die nächste Preisklasse ab 400 Seiten ab 24,90 Euro, 1000 Seiten können dann schon 39 Euro kosten. Der- oder diejenige, der oder die sich um seine Verwertung selbst kümmern muss, wird eher weniger Zeit zu so umfangreichen Werken haben. Auch wird der Verlag kaum besonders erfreut sein, von seinem unbekannten (Debüt)Autor ein Werk von hunderten von Seiten verlegen zu sollen, auch wenn in der Produktion dank digitaler Möglichkeiten kaum viel mehr Kosten entstehen. Das Buch wird mindestens 29,90 Euro kosten. 19,90 Euro werden leichter ausgegeben als 29,90 Euro. Wer soll das denn von einem(r) No-Name-Autor(in) kaufen? So kann man beobachten, dass Autoren, je wichtiger sie werden, desto dickere Bücher schreiben. So hat es zum Beispiel Teresa Mora von ihrem ersten Erzählband „Seltsame Materie“, mit dem sie bekannt wurde, von 256 Taschenbuchseiten über die Romane „Alle Tage“ (2004), 432 Seiten, „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009), 384 Seiten, mit ihrem letzten Roman „Das Ungeheuer“ 2013 auf 688 Seiten gebracht. Auch Thomas Glavinic hat sich von seinem ersten Erfolg „Der Kameramörder“, 160 Taschenbuchseiten, über „Die Arbeit der Nacht“ (2006) 400 Seiten, bis zu seinem neuesten Roman „Der Jonas-Komplex (2016) auf 752 Seiten gesteigert. Ganz zu schweigen von Clemens J. Setz, der nach „Die Frequenzen“ (2009) mit immerhin bereits 720 Seiten 2015 mit „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ nun 1021 Seiten vorlegte. Letzterem traue ich allerdings auch ohne Erfolg eine Arno-Schmidt-Haltung zu.

Was ist eigentlich spannend?

Arno Schmidt hat von dem Fenster seines Arbeitszimmers seines Hauses in der Lüneburger Heide mit dem Fernrohr das Leben beobachtet (wer einmal in der Lüneburger Heide war, weiß, dass sich dort gar nichts tut) und dann auf tausenden Seiten beschrieben. Ja, warum eigentlich nicht? »Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist« schreibt der Sampler David Shields in »Reality Hunger«. Vielleicht ist dazu ein Fernrohr in der Lüneburger Heide gar nicht so schlecht! Besonders, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen heute gar nichts mehr sehen, geschweige denn empfinden. Was an dem allgemeinen Empathieverlust liegt, der wiederum daran liegt, dass unsere Welt so im Argen liegt, dass der empathische Mensch sich praktisch nur mehr noch in sein Kämmerchen zurückziehen, liegen, die Augen schließen und depressiv sein müsste. Und weil ihm das mit der Zeit zu langweilig wird, greift der depressive Mensch in seinem Kämmerchen nach einer Weile, o nein, bestimmt nicht nach Arno Schmidt oder einem konkreten Gedicht sondern… zum nächstbesten Krimi. Oder zumindest zum spannenden Roman. Weil sonst wird er ja noch depressiver. Die meisten der gut verkauften dicken, neuen, erfolgreichen Romane sind daher spannend.

Spannung kann, muss aber nicht unliterarisch sein. Spannung kann, muss aber nicht vom Leben ablenken. Spannung kann, muss aber nicht Widersprüche überdecken. Ich denke da noch einmal an Juli Zehs „Unterleuten“, ein, wie ich finde, ebenso literarisch hochwertiges wie unterhaltsames, ja spannendes Buch, das viel vom Leben, der Politik, der Wirtschaft, der Geschichte und dem Krieg weiß. Und der menschlichen Seele. Aber ich fürchte, Juli Zeh ist unter den wirklich Auflagestarken die große Ausnahme. Als wir im Deutschsprachigen, ebenfalls in den achtziger und neunziger Jahren, beschlossen haben, U und E aufzulösen, hat meine Meinung nach U/U über U/E gesiegt. Das heißt, im Endergebnis wurde nicht eine ironische oder komische oder kritische und unterhaltsame, weil aus dem Leben gegriffene Literatur zu Tage gefördert, sondern schlicht Schund. Der dann auch noch Eingang in die Literaturkritik fand, weil der Markt, siehe oben, auf einmal als Literatur behauptete, was früher einfach als trivial abgetan wurde.

Denn Trivialliteratur hat es immer gegeben. Sie wurde aber noch nie derart schamlos von der Literaturkritik beworben. So mancher Intellektuelle hat immer schon danach gegriffen. Ohne sich damit zu brüsten. Heute ist das umgekehrt. Der Intellektuelle, der den Krimi nicht ehrt, muss sich rechtfertigen. Was ist da los? Könnte man nicht den ohnehin winzig kleinen Bereich guter Literatur als solche bestehen lassen, auch wenn einige ausgezeichnete Kriminalromane darunter sind? Muss man so cool sein, eine Gattung zur Literatur zu zählen, beinahe unbesehen ihrer Qualität? In unserer reichen Gesellschaft wird für alles Geld ausgegeben, nur nicht für etwas so Nützliches wie gute Literatur.

Das leidige Thema: Der Krimi

Spannung und Unterhaltung auf der einfachsten Ebene = der Krimi. Dazu gibt’s nicht viel zu sagen, man sieht ja, was der Krimi im Fernsehen, im Film und auf dem Buchmarkt angerichtet hat. Auch wenn es darunter ausgezeichnete Bücher gibt. Finanziell gesehen zahlt sich der Krimi für die Verlage auf jeden Fall aus. Ist der oder die Auto/in bekannt, wird sogar für ein 245 Seiten-Taschenbuch schon mal 15,40 Euro bezahlt. Ansonsten ist der Krimi ein Preisdrücker. Die umfangreichen Hardcover - Krimis der Schweden Rolf und Cilla Börjlind kosten mit knapp über 500 Seiten 19,99 Euro, Mankell, der mit seinen Wallander Krimis deutlich über 500 Seiten liegt zwischen 23,50 und 26 Euro. Wer will dann noch einen literarischen Roman in Broschürendicke von 200 Seiten für 19,95 Euro? Der womöglich nicht einmal besonders spannend ist! Nein, hier wird jetzt nicht gegen Spannung gewettert!

Spannung und Unterhaltung müssen nicht immer nur Weltflucht sein, sie können auch auf der dem Menschen eigentlich eigenen Neugierde beruhen (d.h. soweit sie ihm nicht ausgetrieben wird von Schule, Staat und Gesellschaft), Neugierde im weitesten Sinne darauf, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das kann jede Literatursparte bieten, sowohl der Krimi als auch die konkrete Poesie. Es gibt ja Gott sei Dank viele Formen der Neugier. Ihr größter Feind ist die Angst. Vor einer Erkenntnis, einer Entdeckung, die nicht gewünscht, vielleicht nicht verkraftbar ist.

Reality-Hunger

Worin also liegt die Krise des Romans? Oder gibt es sie am Ende gar nicht?

2011 ist mit der Übersetzung des Amerikaners David Shields „Reality Hunger. Ein Manifest.“ bei C.H. Beck eine neue Stimme aufgetaucht, die das Unbehagen am sogenannten klassischen Roman, an der Fiktion, am allwissenden Erzähler noch einmal neu formuliert. Nicht aus formellen Gründen, nicht aus der (moralischen) Sicht einer Nach- und Vorkriegssituation, nicht aus Unbehagen am Erzählen an sich, auch nicht aus dem endzeitlichen Gefühl heraus, alles Wesentliche sei schon gesagt, sondern aus der Perspektive einer Generation, die mit „Wirklichkeiten“ aus zweiter Hand überschüttet wird. Es ist die Internet-, Facebook-, Blogger-, Twitter-, Video-, Smartphone-, Reality- Showgeneration, die alles hört, liest, sieht und doch am ausgestreckten Arm verhungert.

Diese Schriftstellergeneration will oder kann keine Romane mehr schreiben, ja will oder kann sie nicht einmal mehr lesen, während „gewöhnliche“ Leser Romane mit hunderten Seiten verschlingen. Also doch Krise? Und wenn Krise, ist dann der unregulierte, wild gewordene Literaturmarkt schuld?

Wenn sich etwas verändert, liegt es nie an nur einem Faktor. Die Krise der zeitgenössischen Literatur liegt nicht nur an den geänderten Marktbedingungen. Im Grunde ist die Krise ja schon uralt, reicht bis vor Flakes ins 19. Jh. zurück. Die Literatur hat viele Funktionen verloren, die sie einmal hatte: Religiöse, politische und geographische Information, beziehungsweise Erziehung, Psychologie, Wissenschaftsvermittlung und so weiter. Das alles haben spezielle Fachgebiete übernommen. Das, aber nicht nur das, hat zur Krise des Romans geführt.

Was heute in unserer Welt alles passiert, zu dem wir dank Internet auch noch ständig Zugang haben, übertrifft die Fantasie jedes Romanciers. Es scheint kaum ein Tabuthema zu geben, alles wird öffentlich gezeigt, beschrieben und besprochen. In sogenannten Reality-Shows werden Situationen als real dargestellt, die in Wirklichkeit gespielt sind, gefakt oder das zeigen, wovon die Macher glauben, dass die Menschen es für Realität halten. Der Unterschied zwischen Realität und Virtualität verschwimmt. Das formt unreflektiert ein neues Menschenbild. Was fehlt sind keine ungeheuerlichen oder außergewöhnlichen oder metaphorischen oder großartigen Geschichten. Was fehlt ist die (Selbst)Reflexion, die Gewichtung.

Das neue Menschenbild

Faktoren, die ebenfalls bereits seit Jahrzehnten zu einem sich ändernden Menschenbild führen, sind einerseits die neuen realen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, Landgrabbing, neue Sklaverei, Kriege, Flüchtlingsströme, der Rechtsruck, der quer durch Europa geht, die neue Dämonisierung des Ostens, der Niedergang der etablierten Parteien, und andrerseits die Ergebnisse der Neurowissenschaft in den letzten drei Jahrzehnten. Ein reduziertes Menschenbild einerseits, ein differenziertes anderseits. Das reduzierte ist leicht zu beschreiben: Es ist ein auf Erfolg und Durchsetzungsvermögen ausgerichtetes, alles Fremde und Störende abwehrendes simples Bild, das zu wissen vorgibt, wer und was gut oder böse ist und sich ansonsten an alten, bereits gescheiterten Werten orientiert. Das differenziertere neue Menschenbild, beruhend auf Erkenntnissen der Gehirnforschung, ist erst im Entstehen begriffen. Vielleicht wird es nie entstehen. Auf jeden Fall aber ist es bereits eingegangen in die Literatur; etwa in die autobiografischen Romane eines Karl Ove Knausgard oder eines Guntram Vespers, in den gesellschaftskritischen Roman einer Juli Zeh, in die Journale von Karl-Markus Gauß, um nur einige Vertreter ganz verschiedener Ansätze zu nennen. Und ich bin sicher, dieses neue Menschenbild wird die Literatur verändern, in Bezug auf die Form, Zeit, Chronologie, Aufbau und Abfolge eines Geschehens, sowie auf den Inhalt, was den Fokus, die Moral, das Augenmerk betrifft. Der Roman wird, so wie es sich ja jetzt bereits ankündigt, mehr aus vielen Geschichten statt einer kohärenten Geschichte bestehen, es werden Wahrnehmungssegmente statt einer in sich geschlossenen Wahrnehmungskette beschrieben werden, die folgerichtige Handlung, die einem geschlossenen Weltbild entspricht, wird aufgebrochen werden, die Trennung von Gut und Böse sowieso, die Zeit, Thema jedes klassischen Romans wird zerstückelt werden, wir werden ernst nehmen müssen, dass unsere Wahrnehmung und alle scheinbar logischen oder spontanen Handlungsabläufe komplizierte Konstrukte unseres Gehirns im Nachhinein sind.

Es gibt kein Zentrum Ich

Die Neurowissenschaften evozieren grundsätzlich neue Einsichten über den Menschen und seine Funktionsweise. Die aber sind noch lange nicht geistig verarbeitet. Weder von der Rechtssprechung, noch von der Soziologie oder der Psychologie. Meist herrscht Verwirrung. Während noch vor gar nicht so langer Zeit ein Ort im Gehirn, eine Ich genannte Lokalität, früher auch „Seele“, so selbstverständlich war, dass an eine Nichtexistenz nicht einmal gedacht wurde, stellt sich heute die Frage, ob es neurowissenschaftlich ein Ich überhaupt gibt und wenn ja, wo sein Sitz sein sollte und wie es denn entstanden sein könnte.

“Entgegen der Vermutung Descartes‘, dass es irgendwo im Gehirn ein singuläres Zentrum geben müsse, in dem alle Informationen zusammenkommen und einer einheitlichen Interpretation zugeführt werden – einen Ort an der Spitze der Verarbeitungspyramide, wo das innere Auge die Welt und sich selbst betrachtet -, entgegen dieser plausiblen Annahmen erbrachte die Hirnforschung den Beweis, dass ein solches Zentrum nicht existiert“, schreibt Wolf Singer in „Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung“, Suhrkamp 2002 (S. 31)

Das hat weitreichende Folgen, was das Bewusstsein, das Ich, das Selbstgefühl, das Gewissen, die freie Entscheidung, Schuldzuschreibungen und Verantwortlichkeiten betrifft, sowohl für die Rechtsprechung als auch für die Literatur. Wie denn nun reagieren? Moralisch oder nicht? Es braucht nur eines Anders Behring Breivik oder eines Pädophilen und selbst der Intellektuelle neigt zur Kopf-ab-Lösung. Der besonnenere Intellektuelle neigt zur Rechtfertigung der Taten durch konkrete Biografien. Können wir nach den Erkenntnissen der Hirnforschung noch Literatur als moralische Instanz betrachten? Und was ist mit dem viel beklagten Werteverlust in unserer Gesellschaft? Ist es Aufgabe der Literatur etwas zu erhalten, an dem die Gesellschaft scheitert?

Ich bin der Meinung, Literatur braucht weder Verurteilung noch Rechtfertigung, sie braucht keine Moral, und schon gar nicht sogenannte Werte. Vielleicht braucht sie am ehesten einen Autor, der gemischten Gefühlen einen klaren Ausdruck zu geben vermag.

Die Wahrnehmung ist nicht unmittelbar

Des Weiteren haben die Neurowissenschaften entschlüsselt, dass nur ein Teil unserer Weltwahrnehmung unmittelbar über die Sinnesorgane passiert. Der größte Teil geschieht in unserem Gehirn selbst.

Offenbar trifft eine unvorstellbar große Informationsmenge jeden Augenblick auf unsere Netzhaut, von der jedoch aus verarbeitungstechnischen Gründen nur ein sehr kleiner Teil in unser Bewußtsein gelangt. Fast vierzig Prozent des Großhirns befasst sich mit der Verarbeitung visueller Informationen. Die primäre Sehrinde leitet Daten an sogenannte Assoziationsfelder weiter. Erst hier entsteht, was wir als Bild erleben. Die Assoziationsfelder haben gar keinen direkten Kontakt zu den Augen, sie vergleichen mit bereits gemachten Wahrnehmungen, assoziieren, wie der Name sagt, werten aus. Nichts funktioniert statisch oder mechanisch, weil das Material selbst, das Gehirn nicht statisch ist, sondern sich mit den gehirninternen Tätigkeiten stets verändert.

Auch die Erinnerung funktioniert nicht statisch.

Erlebnisse, Ereignisse gelangen zunächst in den Kurzzeitspeicher. Sollen sie behalten werden, müssen sie in den Langzeitspeicher und zwar in das episodische Gedächtnis (es gibt verschiedene Gedächtnisse, auch hier haben wir es mit keinem zentralen Organ zu tun).

Bei jedem Erinnern werden Spuren des Erlernten oder Erlebten erneut geschrieben. Das heißt, bei jeder Erinnerung geht auch der Kontext, in dem die Erinnerung stattfand, in die Erinnerung ein und prägt damit bereits die nächste Erinnerung mit.

„Was schon für die Mechanismen der Wahrnehmung zutraf, scheint also in noch weit stärkerem Maß für die Mechanismen des Erinnerns zu gelten. Sie sind offensichtlich nicht daraufhin ausgelegt worden, ein möglichst getreues Abbild dessen zu liefern, was ist, und dieses möglichst authentisch erinnerbar zu halten.“ (S. 84)

Traum ist Erinnerung

Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Ergebnisse der Traumforschung.

Träume gehören zu unseren intimsten Erlebnissen überhaupt. Während uns die geschlechtliche Liebe immerhin mit einem Partner verbindet, sind wir im Traum völlig allein. Keiner nimmt wahr, was wir sehen, weil die Bilder ohne Zutun der Sinne entstehen. Sie sind rein innere Erlebnisse. Schon im Wachzustand ist die Frage vertrackt, was genau ein anderer Mensch sieht, hört oder fühlt. Aber wenigstens gibt es Anhaltspunkte… Im Schlaf dagegen entfällt dieser Bezug zur äußeren Wirklichkeit. Im Schlaf stellen nicht bloß die Augen, sondern auch die primäre Sehrinde den Betrieb ein. Die Assoziationsfelder allerdings, die Collagen montieren und die Wirklichkeit oft so unbekümmert ignorieren, arbeiten weiter. Deshalb glauben wir im Traum zu sehen; in Wirklichkeit erinnern wir uns.“ (82) Und Erinnerung ist bildhaft.

Träume kennen, so wie Erinnerungen, keine Chronologie.

„Dass „früher“ oder „später“ keine Bedeutung mehr haben, erscheint uns widersinnig, solange wir wachen, doch genau diesen Zustand beschert uns der Traum: Er löst die Zeit auf…An die Stelle der Chronologie treten nämlich andere Regeln: die Gesetze der Erinnerung. Tagsüber bleiben uns diese Prinzipien, denen wir unser „Ich“ verdanken, meistens verborgen. Wir setzen voraus, dass die Chronologie das Rückgrat unserer Erinnerung bildet. Schließlich kommt uns das Gedächtnis wie eine Filmrolle vor, auf welcher der Handlungsstreifen unseres Lebens konserviert ist…Aber das ist ein Irrtum.“ S. 95/96

Im Gehirn existiert offenbar auch kein Organ für das Gedächtnis. Die einzelnen Sinneseindrücke, Gefühle und Gedanken werden vielmehr dort erfasst, wo sie entstanden, als die Erinnerung Gegenwart war.

Was uns im Wachzustand als Erfahrung eines Augenblicks erscheint, ist in Wirklichkeit ein nachträglich und aufwendig zusammengesetztes Flickwerk.

Erkenntnisse und Literatur

Welchen Einfluss diese Erkenntnisse auf die Literatur haben? Einen immens großen, meine ich. Der klassische Roman lebt davon, dass eine erfundene Geschichte glaubwürdig und unhinterfragt dargeboten wird. Das erfordert großen Aufwand an „Bühnenausstattung“. Es erfordert eine Zeitenfolge, einen Bogen, eine Entwicklung, eine besondere Kohärenz. Etwas steht am Anfang, entwickelt sich, und steht am Ende anders da. Der klassische Roman vermittelt ein geschlossenes Weltbild, in dem Späteres Folge von Früherem ist, in dem Abläufe logisch sind, erklärbar. So erleben wir aber nicht die Welt. Und schon gar nicht uns selbst. Es gelingt uns mit Mühe, unser Ich als 5jährige(r) mit unserem Ich als 30 jährige(r) und als 60jährige(r) in Verbindung zu bringen, wir versuchen auch, um dieses Ich willen, eine Logik in unserer Leben zurück zu spiegeln, die da gar nicht war. Erst im Nachhinein ordnen wir unser eigenes Leben. Das nennt man Erinnerung. Erinnerung aber ist, wie wir gesehen haben, immer auch Erfindung. Wir sind Archivare und Mythologen. Archivare, die versuchen, möglichst abgesicherte Erinnerungsarchive aufzubauen und Mythologen, die an unserem Selbstbild arbeiten, also Erinnerungen auswählen, interpretieren, zusammenfügen oder auch einfach ignorieren.

Es ist das geschlossene Weltbild im klassischen Roman, das uns langweilt. Die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Der oft mit großem Aufwand angelegte Versuch, uns glauben zu machen, dass es sich im Roman um die Wirklichkeit handelt. Der allwissende kohärente Erzähler, hinter dem sich das Ich versteckt. Vielleicht muss auch dieser Erzähler sein Versteck endlich verlassen. Heißt das, die Alternative zum klassischen Roman wäre die radikale Autobiographie? Vielleicht. Denn jetzt, wo wir wissen, dass wir sowieso reine Fiktion schreiben, weil die Erinnerung das Unzuverlässigste überhaupt ist, eine Mischung aus Postkartenbildern, Erzählungen und Erfahrungen aus dritter Hand, Notlügen und unserem eigenen Versuch, eine Linie in unsere Erinnerungen und Gefühle zu bringen, also Mythen zu schaffen, und – vielleicht – wirklich Erlebtem, jetzt, wo wir wissen, dass das Gehirn gar keinen Koordinator besitzt, der Ich wäre und unsere Entscheidungen fällte, sondern dass höchstwahrscheinlich unendlich viele Prozesse in unseren Gehirn parallel ablaufen, Entscheidungen womöglich durch zombieartiges Training zustande kommen, dass unser limbisches System Tag und Nacht mitredet, dass ein Großteil unserer Wahrnehmungen hirnintern abläuft und nicht hauptsächlich über die Sinnesorgane, dass schwer erklärlich ist, wo eigentlich das Bewusstsein unseres Selbst herkommt, wo Ich das einzige nicht objektivierbare, nicht objektiv Beobachtbare ist, weil ja der Beobachter im Gehirn selbst sitzt, jetzt, wo wir über den Umweg der Traumforschung und der Psychiatrie so vieles über das Schreiben erfahren haben, ist endlich wirklich und wahrhaftig kein „nur“ mehr angebracht, wenn von autobiographischem Schreiben die Rede ist.

Das Theater hat bereits vor zwei Jahrzehnten begonnen, die alten, klassischen Stücke, die es aufführt, zu zerhacken. Weil die geschlossene Welt, in nur zwei bis drei Stunden dargeboten, noch auffälliger nicht mehr kompatibel ist. Die meisten der moralischen Stücke deutscher Klassik (Die Bühne als moralische Anstalt zur Erziehung des Volkes) sind im Grunde nicht mehr spielbar. Okay, es ist ein relativ leichtes Spiel. Die (klassische) Vorgabe ist da, sie ist sanktioniert als große Literatur, und kann nun leicht zerhackt werden. Schwieriger ist es schon, die zerhackte Welt selbst zu zeigen. Dazu aber müsste man Geld für zeitgenössische Bühnenautoren ausgeben und man müsste den sicheren Boden bereits sanktionierter Literatur verlassen. Dann doch lieber die Schimpfe auf das moderne Regietheater!

Das Erdensekretariat der Genauigkeit und der Seele

Was aber wäre oder ist nun die zeitgenössische Literatur? Was wäre oder ist oder bleibt die Einzigartigkeit der Literatur. Das, was nur sie vermitteln kann?

"Erlaucht!" sagt Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, zum Grafen Leinsdorf, "es gibt nur eine einzige Aufgabe für die Parallelaktion: den Anfang einer geistigen Generalinventur zu bilden! Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und der Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben."

Was seit 1918 nicht oder nur unzureichend getan wurde, steht heute noch auf der Tagesordnung. Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 2021 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Das Erdensekretariat der Genauigkeit und der Seele, das sind die Gebiete, die der Literatur geblieben sind. Vernachlässigt von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung, Psychologie und Religion. Sie alle (müssen) verallgemeinern, haben Prinzipien, die oft „Werte“ genannt werden, stellen Regeln auf, schließen aus oder ein, bauen Systeme, verfolgen Ziele und Interessen, verwalten, verfügen oder formulieren Richtlinien, Grenzen, Gesetze. Die Literatur tut das nicht. Es ist nicht ihre Aufgabe zu richten, zu interpretieren, zu werten. Ihr fällt die Rolle der Generalinventur zu, Bestandsaufnahmen wie sie niemand leisten kann, der in irgendeiner Form, sei es finanzieller oder prinzipieller Art Interesse am Endergebnis einer solchen Bestandsaufnahme hat.

Das „interesselose Wohlgefallen“ Kants

Kant nannte das „interesseloses Wohlgefallen“ und definiert damit Schönheit. Früher sagte man zu guter Literatur „schöne Literatur.“ Tritt der Faktor der Vermarktung von Literatur in den Vordergrund, das heißt, versucht der Autor, sein Buch spannend und unterhaltsam zu machen, um es besser verkaufen zu können, ist seine Bestandaufnahme nicht mehr interesselos. Er will vor allem etwas verkaufen und erst in zweiter Linie etwas mitteilen. Denn das Mitzuteilende selbst ist in der Literatur in den wenigsten Fällen wohlgefällig. Das Schöne ist nicht inhaltliches Ziel der Literatur, ebensowenig wie das Häßliche. Es geht um die Bestandsaufnahme und die Seele. Egal, wie diese beschaffen sind.

„Ich bin daran interessiert, die Geheimnisse zu erfahren, die Menschen miteinander verbinden. Auf der untersten, tiefsten Ebene sind all unsere Geheimnisse die gleichen.“ (S.33) sagt der in vielerlei Hinsicht von mir geschätzte David Shields in Realty hunger“. In der Literatur geht es darum, die ganz konkreten Geheimnisse zu erzählen oder zu erfinden, was dasselbe ist. Die Verallgemeinerung der Geheimnisse und ihrer möglichen Gründe sind Aufgabe der Psychologie, vielleicht auch der Soziologie und der Politologie, der Geschichte etc., die Bestandaufnahme, das (jeweils subjektive) Wahrnehmen ist Aufgabe der Literatur. Und wenn es stimmt, was Shields sagt, dass auf der untersten, tiefsten Ebene alle unsere Geheimnisse die gleichen sind, wovon ich im Übrigen persönlich überzeugt bin, dann ist es ausschließlich der Autor selbst, der die „Wahrheit“ der Geheimnisse (er)kennt. Das Wissen um seine eigenen Geheimnisse ist der letzte Maßstab und nichts sonst. Und dazu braucht es Selbsterkenntnis und Wissen, Erfahrung, (Selbst)Beobachtung, Recherche, vielleicht auch Humor, aber sicher keine handwerklichen Raffinessen. Wenn die dazukommen, umso besser. „Kunst ist nicht Wahrheit; Kunst ist eine Lüge, die uns in die Lage versetzt, die Wahrheit zu erkennen“ soll Picasso gesagt haben.

Literatur als Trost

Was aber bleibt so gesehen die Auswirkung von Literatur, die sie und nur sie hervorrufen kann? Gelogene Wahrheit, konstruierte Menschlichkeit, anspruchsvolle Unterhaltung, gebildete Weltflucht oder alles auf einmal?

Der Mensch ist beides. Er ist ein soziales Wesen und er ist Individuum. Er lebt in größeren menschlichen Zusammenhängen und er ist allein. Er wird als Teil eines anderen Menschen geboren und er stirbt allein. Aber auch als soziales Wesen wird er nie vollständig verstanden, kann sich nie vollständig verständlich machen. Auch nicht in der Kunst. Er macht ein Angebot, das vom Anderen angenommen wird, sofern es ihn berührt. Interpretieren wird es ein jeder anders.

„Der Unterschied zwischen dir und mir ist der, dass ich alleine sterbe.“ (S.187) sagt David Shields in seinem Manifest. Und dieser Unterschied ist es, der tröstet.

Vielleicht liegt im Trost, sowohl mit den Problemen im sozialen Leben auch im Alleinsein nicht der Einzige zu sein, das „Wohlgefallen“, das ein Werk, altmodisch ausgedrückt, zur „schönen Literatur“ macht.

 

Gedruckt in: Zwischen Schreiben und Lesen. Hg.Edith Bernhofer, Tomas Friedmann, Robert Huez. Klever/Essay 2016

Festrede zur Eröffnung der donauFESTWOCHEN 2019

am Freitag, 26. Juli 2019

Musik ist die Poesie der Luft
Jean Paul

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

es ist nicht selbstverständlich, dass Sie hier, im Arkadenhof von Schloß Greinburg, bei der Eröffnung der 25. donauFESTWOCHEN 2019 sitzen. Sie sind ein privilegiertes Publikum, das eine bestimmte musikalische Prägung erfahren hat. Entweder aus unmittelbarem Interesse an der Musik, oder aus Interesse am mittelbaren Drumherum. Es ist aber noch viel weniger selbstverständlich, dass ich heute vor Ihnen stehe, um auf diese wunderbaren Festwochen einzustimmen. Ich habe mich bis zu dem Zeitpunkt, als ich Ihre Einladung zur Festrede erhielt, für einen unmusikalischen Menschen gehalten. Das kam so:

Es hat bereits in der ersten Klasse Volksschule angefangen. Jemand brummt, sagte meine Volksschullehrerin in der Chorstunde. Sie kann kein ganz feines Gehör gehabt haben, denn sie wusste zwar, dass, aber lange Zeit nicht, wo. Ich wusste es auch nicht, weil ich nicht nur die anderen, sondern auch mich selbst weder richtig noch falsch singen hörte. Diese Kategorien existierten gar nicht für mich. Weil ich gerne sang, hielt ich mich in keiner Weise zurück. Daher war ich sehr erstaunt, als ich in der zweiten Klasse Volksschule zu der wurde, die brummt. Ich durfte nicht mehr im Chor mitsingen. Das war insofern nicht so schlimm, weil Chorsingen meistens in der letzten Stunde stattfand und ich dann früher heimgehen konnte. Vielleicht lag ja da bereits der erste Stolperstein zur Musik für mich. Möglicherweise habe ich da schon etwas Wesentliches versäumt oder ein böser Geist hat mich für die Freude, eine Stunde früher von der Schule nach Hause gehen zu dürfen, bitter bestraft. Es wurde nichts mit mir und der Musik. Was eigentlich erstaunlich ist, denn ich komme aus einer Familie mit Klavier. Das war damals Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts durchaus nicht üblich. Möglicherweise war es ein Jungmädchentraum meiner Mutter, ein Klavier zu besitzen, natürliches Talent war es nicht. Sie übte verbissen, aber erfolglos. Ich musste auch üben. Mir fehlte außer dem Talent auch die Begeisterung. Das Vorspielen aller Schüler bei meiner Klavierlehrerin, einmal im Jahr, war mir eine Qual. Ich konnte mir keine Stücke auswendig merken. Das war aber verlangt. Ich weiß nicht mehr, ob ich nur in meinen Albträumen oder auch in der Wirklichkeit regelmäßig steckenblieb. Ich will nicht gleich von einem Trauma reden, aber belastend war es schon. Nach fünf oder sechs Jahren durfte ich aufhören, Klavier zu spielen. Es war gleichzeitig das vorläufige Ende meiner Musikerfahrungen. Auch das ist seltsam. Bei uns zu Hause wurde Musik gehört, meine beiden Eltern sangen im Brucknerchor, ein Schwager väterlicherseits war Mitglied der Tschechischen Philharmonie, bei allen unseren Familienfesten wurde gesungen, mein Vater spielte Gitarre, mein Cousin auch, und der besuchte außerdem jede Musikveranstaltung in Wien. Da er studierte, konnte er sich nur Stehplätze leisten. Man sollte doch annehmen, dass ich allein deshalb, wenn schon nicht aktiv, so doch passiv mit Musik verbunden war. War ich aber nicht. Es muss Abwehr gewesen sein. Weniger gegen die Musik, sondern mehr gegen die Gemeinschaft, die Musik macht oder gemeinsam hört. Ich glaube, ich wollte einfach nicht das fühlen, was die Musik mich und alle anderen aber fühlen macht. Ich war ein einsames Einzelkind, das sich zum Trotz nicht trösten lassen wollte. So diente mir Musik, so wie übrigens auch die Religion, lediglich zum Abdriften. Wenn meine Eltern mich ins Konzert mitnahmen oder wenn ich sonntags in der Kirche saß, malte ich mir die schönsten Dinge aus. Daß ich einen eigenen Hund hatte oder als jüngstes Mädchen der Welt eine Expedition in den Urwald leitete. Die Wahnsinnsarie der Lucia di Lammermor, in einer Aufnahme von 1953 (mein Geburtsjahr) mit Maria Callas, die mein Vater immer wieder hörte, störte meine Träume mit den für mich bloß schneidend hohen Tönen. Sein Kampf mit der Zwölftonmusik, den er wahrscheinlich mit der innersten Überzeugung aufnahm, ihn zu verlieren, ebenfalls. Meine Mutter war mehr ein Verdi-Fan, was auch störte, wenn auch weniger durch einzelne Töne; eher flächendeckend. Auch als ich älter wurde, tat sich nicht viel. Im Gymnasium hatten wir eine Musiklehrerin, die glaubte, Lärm in der Klasse damit bekämpfen zu können, dass sie drohte, die Klasse zu verlassen. Pädagogisch sehr ungeschickt, denn wir hatten nichts dagegen und sie lief regelmäßig aus der Klasse und verbrachte die Musikstunde allein auf dem Gang. Und auch, obwohl ich während meines Studiums in einer Wohngemeinschaft wohnte, in der ununterbrochen Musik gehört wurde, zogen sowohl die Beatles als auch die Stones, sogar Jimi Hendrix oder Bob Dylan relativ unbeeindruckend an mir vorbei. Wo andere sich fesseln ließen, begab ich mich lieber freiwillig in Isolierhaft. Ich weiß nicht, ob es einige unter Ihnen gibt, die Ähnliches empfunden haben.

Erst als ich in Japan lebte, wo ich nicht viel Ansprache hatte, begann ich, Musik zu hören. Zunächst japanische Musik, die mir auf Anhieb gefiel. Es war vor allem die Shakuhachi mit ihrem vollen, rauchigen, kehligen, langgezogenen Tönen. So einen Klang hatte ich noch nie gehört. Es war wie die ersten Klänge, das erste Rauschen der Wälder, das erste Atmen, der erste Sonnenaufgang. Der erste Sternenhimmel. Ich musste in der Musik wohl ganz von Null anfangen. Und zwar ganz allein. Zuerst also die Bambusflöte, dann auch die Shamisen, ein dreiseitiges Lauteninstrument, die Koto, zwölfsaitig, und die Taiko, die große Trommel. Und: Im japanischen Radio war ununterbrochen europäische klassische Musik zu hören. Also hörte ich auch europäische klassische Musik.

Wieder zurück in Österreich war der Bann gebrochen. Ich gehörte und gehöre aber immer noch nicht zu den Künstlern, die den ganzen Tag Musik hören (es sind meistens die Maler). Es liegt daran, dass ich nicht geeicht bin gegen Musik. Bin ich in einem Text, muss ich eine bestimmte emotionale Ebene halten. Manchmal über Tage, Wochen oder Monate. Da darf nichts unversehens geschehen. Das geschieht aber bei Musik. Von Kontrolle keine Rede. Ich höre die Kindertotenlieder von Gustav Mahler und bin für Tage schreibunfähig. Oder die Symphonie aus der neuen Welt von Antonin Dvorak und frage mich, wieso etwas so Vollkommenem noch überhaupt irgendetwas hinzugefügt werden sollte. Musikalisch oder literarisch. Darüber hinaus liegt mein vorsichtiger Musikgenuss wahrscheinlich auch daran, dass ich ein autobiographischer Autor bin. Ich habe mich nicht nur schreibend sondern auch theoretisch immer wieder mit den Mechanismen des Gedächtnisses beschäftigt. Wo im Gehirn sind die Erinnerungen gespeichert, wie werden sie abgerufen, wie verändern sie sich mit der Zeit und wie entsteht aus den Erinnerungsbruchstücken und Fakten letztendlich das Ich, das wir zu sein vermeinen? Und wo in unserem Kopf säße so ein Ich, wie entsteht Bewusstsein? Ich habe gelernt, dass das Gedächtnis ein unzuverlässiger Faktor ist, der meine Erinnerungen und Erzählungen aus dritter Hand durcheinandermischt, wie es ihm beliebt. Und Musik macht der Literatur Konkurrenz. Indem sie selbst das Gedächtnis anregt. Ich habe Angst, verführt zu werden, mich aufzulösen. Kann man sich falsch erinnern? Oder ist es doch wieder der alte Trotz, alles ganz allein zu machen und sei es die Selbstauflösung? Vielleicht. Das Denken ist eine Leistung, die sich aus der Summe elektrischer Impulse im Gehirn ergibt. Die dabei sich auf elektrischer Basis ergebenden Gehirnwellen werden in Alpha- Beta-, Gamma-, Theta- und Deltawellen gegliedert. Zwischen 8 bis 12 Hertz ensteht Entspannheit, zwischen 38-70 Hertz zeigt sich höchste Konzentration, unter vier Hertz sind wir im Tiefschlaf. Genau dieses Wechselspiel zwischen den Gehirnwellen könnte gut die Wirkung musikalischer Impulse auf uns erklären. Als Spiel zwischen Entspanntheit, Konzentration, Dämmern, Kreativsein, Tiefschlaf. Musik regt das Gedächtnis an. Musik ist vielleicht sogar Gedächtnis. Schon von einem Klang zum nächsten, von einzelnen Klängen zu Melodiebruchstücken, von Melodiebruchstücken zu Themen, von Themen zu Sätze, und von Sätzen zu ganzen Symphonien. Das Erkennen von Strukturen gibt uns Sicherheit und ein Glücksgefühl. Denn wir haben Angst, verloren zu gehen im Chaos der auf uns einströmenden Wahrnehmungen und Gefühle. Vielleicht finden wir dieses Glücksgefühl in der Musik auch im Dazwischen, im Noch- nicht- gefunden- Haben von Strukturen. Das wäre dann die Lust, verloren zu gehen.

Die Beliebtheit so genannter Türkenopern im 18. Jahrhundert speist sich aus beidem: Aus der Angst vor Fremdem und der Faszination durch Fremdes. Das hat historische Gründe: Die letzte Türkenbelagerung fand 1683 statt. „L’incontrato improvviso“ ist 1775 uraufgeführt worden. Die unerwartete Begegnung findet hier übrigens in Kairo statt. Die Türkenoper unterscheidet nicht zwischen Türken, Arabern, Persern oder Nordafrikanern wie wir das heute allein aus Asylgründen mit den Irakern, Syriern, Afghanen etc. tun. Wurde diese Oper von Joseph Haydn auch deshalb gerade zum 25. Jubiläum der donauFESTWOCHEN hier im Arkadenhof ab 3. August ausgewählt? Kann sie aufgrund ihres aufklärerischen Geistes und aufgrund ihrer musikalischen Strukturen auch uns gerade heute die Angst vor dem Fremden mildern und die Neugierde auf das Fremde entfachen?

Aber Musik gibt es ja gar nicht in der Realität. Es gibt atmosphärische Dichteschwankungen. Anfang dieses Monats war in Ö1 zu hören wie Proteine klingen. Moleküle sind ja immer in Bewegung, ihre Schwingungen sind für das menschliche Ohr unhörbar, sind aber in unser Hörspektrum verschiebbar. Jede Aminosäure soll ihren eigenen Sound haben.

Musik entsteht im Kopf. Nur so lässt sich „das unaussprechlich Innige aller Musik“ erklären, „vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, das so ganz verständlich und doch so  unerklärlich ist“, was darauf beruht „daß sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual.“ (Arthur Schopenhauer „Die Welt als Wille und Vorstellung“).

Musik aber ist auch wie einer jener Träume, die die Grundstimmung eines Tages bestimmen können. Man kämpft immer gegen Engel oder Teufel.

Ich mag Oratorien. Hoffentlich nicht nur eine Remineszenz an meine kindlichen Abschweifungen in der Kirche.

Und weil ich Mendelssohn Bartholdy mag, mag ich auch sein Oratorium „Elias“, das Sonntag in der Stiftskirche Waldhausen zu hören sein wird.

Das Oratorium kommt gewissermaßen meinem Schreibstil entgegen. Keine großen Schnörkel, Attribute, oder Äußerlichkeiten wie Bühnenbild, Ausstattung und Garderobe wie in der Oper oder dem klassischen fiktionalen Roman. So ein Bühnenbild kann ja auch ablenken, und wenn ich daran denke, wieviel Zeit und Kraft der klassische fiktionale Romanautor und mit ihm also auch der Leser nur auf das Bühnenbild legt, seine Rechtfertigung sozusagen, etwas erfinden zu dürfen, wo es doch genug gibt, das der Autor selbst erlebt hat, aber gegebenenfalls hinter einer Kulisse versteckt, dann lobe ich mir den autobiographischen Roman und das Oratorium. Das alles hat nichts mit Inhalten zu tun. Ich bin nicht gläubig. Propheten oder Heilige interessieren mich nicht besonders. Was mich interessiert ist das Innere des Menschen, wie er fertig wird mit all den äußeren Zumutungen des Lebens. Sein Kampf interessiert mich und da bin ich ganz bei Elias. Und bei der Musik. Da braucht mir niemand etwas zu erzählen.

Meine Überzeugung, daß keine Geschichten mehr erfunden werden müssen, trifft auf Elias zu! Mir reicht es vollkommen, dass das eigene Lebens nichts als eine Erfindung ist, zusammengestückelt aus dem, was wir glauben, das wir wahrgenommen, erkannt,  gesagt und getan haben.
Elias kämpft. In seinem konkreten Fall gegen die Vielgötterei, was aus seiner Sicht ein Kampf gegen das Goldene Kalb, Äußerlichkeiten, Geld und Ruhm oder was weiß ich alles ist. Er kämpft für die Wahrheit, was auch immer sie für ihn bedeutet. Und dieser Kampf erschöpft ihn. Er gibt beinahe auf, zieht sich in die Wüste zurück – die Wüste ist immer Versuchung, Offenbarung und Erlösung - um am Ende gestärkt daraus hervorzugehen. Aber er kämpft nicht auf einem menschenleeren Planeten. Um ihn herum gibt es den Chor, mal Israeliten, mal Baal-Priester. Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen Individuum (Elias) und Gemeinschaft (Chor), der sich niemand von uns entziehen kann, wenn wir (über)leben wollen. Und es gibt das Orchester, das beides vereint und wieder zurückspiegelt ins Innere. So etwas kann man nicht schreiben, das kann man nur hören.

Wir sind beides: Teil der Natur und über der Natur stehend, Individuum und Teil der Gemeinschaft. Canetti nennt es den Individual- und den Massentrieb. Der Massentrieb muss nicht Massenhysterie sein, sondern er kann befreien aus dem Gefängnis des Individuums. Teil von anderen zu sein, die Musik hören, die gerade in dem Moment produziert wird, ganz analog, Teil der Gefühle anderer zu sein, mit anderen zusammen zu fühlen, Teil eines großen Ritus zu sein, der nicht in Zerstörung, sondern in Bereicherung führt, das haben wir fast vergessen. Aber genau das finden wir in Musik. Kunst ist immer ein Werkzeug zur Selbstbestimmung des Menschen.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, heißt es im viel zitierten letzten Abschnitt des Tractatus von Ludwig Wittgenstein. Victor Hugo setzt dem gute fünfzig Jahre vorher entgegen: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist“.

Wir können bis jetzt weder uns selbst noch das Universum ganz erklären. Wir wissen weder, wann, noch wie und schon gar nicht warum das Universum und Leben entstanden sind. Wir wissen aber, alles ist letztlich Schwingung, wir selbst, das Universum, unser Anfang und unser Ende. Vielleicht kommt die Musik den letzten Geheimnissen ja am nächsten. Wir sollten wir uns darauf einigen, in Zukunft statt Urknall Urklang zu sagen.

Ich danke Ihnen, dass Sie aufgrund Ihres Auftrages, heute diese Rede zu halten, aus mir einen musikalischen Menschen gemacht haben und wünsche Ihnen für diese bunten Jubiläumsfestwochen mit Musik aller Art, Tanz und Literatur und Bildender Kunst schöne, unerwartete Begegnungen mit sämtlichen Urklängen.